Der leuchtende Hirsch
Eine Legende der Entstehungsgeschichte des Fraumünsters
Die Wurzeln der Entstehungsgeschichte des Fraumünsters reichen weit ins 9. Jahrhundert zurück, als der ostfränkische König Ludwig der Deutsche, Enkel Karls des Grossen, mit seinen beiden Töchtern Hildegard und Berta in der Burg Baldern lebte.
Die Töchter des Königs waren bescheiden und fromm. Sie führten ein gottgefälliges Leben und fanden sich so täglich in der kleinen Kapelle des Grossmünsters zum Gebet ein.
Oft waren die beiden Schwestern bis tief in die Nacht in ihre Gottesandacht versunken. Nun führte der Weg zum Grossmünster jedoch durch einen finsteren Wald, in dem es nur so von wilden Tieren wimmelte. Um seine frommen Kinder zu beschützen, entsandte ihnen Gott ein majestätisches Geschöpf zum Geleit: einen Hirsch mit strahlend weissem Fell und leuchtendem Geweih. Dieses prächtige Tier leuchtete fortan täglich den Weg der Königstöchter zur Kapelle und verharrte geduldig auf einem Wiesenstück, das sich zwischen dem Zürichsee und dem Flüsschen Limmat befand, bis die Mädchen sich auf den Heimweg machten. Nicht einen Schritt war das Tier von der Stelle zu bewegen, ehe die frommen Jungfrauen das Zeichen zum Aufbruch gaben.
Die Königstöchter erkannten bald, dass es sich um einen besonderen Ort handeln müsse, an dem der Hirsch verweilte. Sie fassten daher den Entschluss, an dieser Stelle ein Kloster zu Ehren des Herrn zu errichten. Als sie jedoch ihren Vater, den deutschen König Ludwig, darum baten, ihn bei dieser gottgefälligen Aufgabe zu helfen, bezweifelte dieser die Tauglichkeit des Orts: zu sumpfig, zu eng begrenzt erschien ihm das Wiesenstück.
Am nächsten Morgen jedoch fand man ein grünes Seil, das vom Himmel herab bis auf die Au hing; ein wahrhaft göttliches Zeichen des Herrn, das die gewählte Stelle als richtig bekundete. Nun erkannte auch der fromme König den Gotteswillen und stiftete folglich am bezeichneten Ort die Fraumünsterabtei. Hildegard, die Ältere der beiden Schwestern, stand als erste Äbtissin dem Orden vor, nach ihrem Tode übernahm Bertha, die Jüngere, ihren Platz ein. Bis heute erzählt ein Fresko im Fraumünster von der wundersamen Geschichte des göttlichen Hirschs und den beiden Königstöchtern.